Dialogische Entwurfsprozesse
Mimetische Transformation und
De-Automatisierung im Aesthetischen
Spiel
Dagmar Jaeger jp3
Prolog
Denn [...] der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung
des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er
spielt.
Wir haben keinen Anla, uns ganz Mensch zu nennen, bevor
wir nicht die Grenze zu halten gelernt haben zwischen dem sicher
Gekonnten und dem Wagnis des Nicht-Knnens, bevor wir nicht
die zugleich behutsame und gelassene, zugleich agierende und
dienende Einstellung gefunden haben, die gutes Spielen von
uns bei Strafe des Missglckens verlangt.
Mit dem Spielerischen wird Spa assoziiert, das Gegenteil
von Arbeit als Ernst des Lebens. Mit Kindheitsspielen, Gesellschaftsspielen
oder Naturspielen verbinden wir in der Regel etwas Leichtes
und Positives. Das Spiel ist etwas Anstrengungsloses, obwohl
es auch anstrengen kann. Es gibt Wiederholungen, die zwischen
einem ritualisierten Ablauf und Refrain - im Kinderspiel oder
in der Dichtung - changieren knnen, oder einfach wiederholte
Handlungsablufe sind, z.B. des Kindes, das sich bestimmte
Lebenserfahrungen ganz nebenbei aneignet, bei dem nicht immer
nachvollziehbar ist, was da eigentlich gerade interessiert.
Das Spiel ist eine Handlung, die ihren Zweck bereits in sich
selbst trgt, durch die Handlung des Spiels und im Spielen
an sich. Der Sinn des Spielens ist das Spiel. Es verluft nach
vereinbarten Regeln, die dazu dienen, sich in einem unbeschwerten
Fluss von Handlung und Gedanke dem Vergehen von Zeit und einer
Beschftigung im Modus des als ob hinzugeben. Der Zustand
des schwebenden Scheins hebt
das knstlerische Spiel ber die physische Wirklichkeit hinaus,
in die Welt des Schpferischen, Imaginierten beim Spielvorgang,
das als Zu-sein-Scheinendes sich im sthetisch Hervorgebrachten uert.
In kreativen Prozessen ist das spielerische Moment ein guter
Partner: als wesentlicher Bestandteil kultureller, sthetischer
Hervorbringung und zugleich als menschlicher Antrieb, diese
Hervorbringungen zu kommunizieren, zu zeigen in einer kreativen Schpfung imaginrer Interpretation.
Drei Annherungen verorten das sthetische Spiel der Stillen
Post als kreativen Entwurfsprozess:
das Spiel nach Regeln als
absichtsvolle Handlung zur Evokation des Zufalls und der
Inspiration wird im ersten Abschnitt untersucht, der dialogische
Entwurfsvorgang zwischen Personen und Dingen ist im zweiten Teil Gegenstand
der Auseinandersetzung und schlielich wird im dritten Abschnitt
die Transformationsleistung der
spielerischen Entwurfshandlung zur Verwandlung, Symbolisierung
und Aufbewahrung von sthetischer Tradition ins Verhltnis
gesetzt. Die theoretischen berlegungen sind im Text mit
den Betrachtungen ber das konkrete Spiel ineinander gewoben,
um die Gedankenstrnge deutlich zu machen.
1. Schpferischer Automatismus [4] als Strategie im Spielvorgang
[...] das Wunderbare ist immer schn, gleich, welches Wunderbare
schn ist, es ist sogar nur das Wunderbare schn. Das Konzept des Spiels Stille Post gibt
die Regeln vor aber 'spielen' mssen die Individuen, die
sich entschlossen haben, die Regeln fr eine gewisse Zeitspanne
zu akzeptieren. Im besten Fall eignen sie sich die Regeln so
sehr an, dass sie sich frei in ihnen fhlen
und den Gegenstand ihres Spiels aus diesem Empfinden heraus gestalten. Diese Art des Spiels, an dessen Ende ein bleibendes
Produkt vorliegt, hat historische Vorbilder vor allem in den
1920er Jahren in Deutschland und Frankreich, d.h. der Bauhaus-Kultur
und den Kunstformen des Surrealismus.[6] Wer also den Vorgang inspirierten
Handelns und den mentalen Zustand, den es frei setzt, genauer
untersuchen will, findet insbesondere in der surrealistischen
Praxis der criture automatique[7] ein Vorbild.
Sptestens seit Erscheinen des ersten surrealistischen Manifests
von Andr Breton 1924 ist bekannt, dass die surrealistischen
Literaten, Maler und Photographen ihre knstlerischen Verfahren
wesentlich an den Psychoanalysetechniken Sigmund Freuds orientiert
haben. Insbesondere Freuds Traumdeutung hat das Interesse der
Surrealisten provoziert. Es
bestehen deshalb interessante Parallelen zwischen dem, was
Freud das freie Assoziieren[10] genannt hat und dem Zustand,
den die Surrealisten fr den fruchtbarsten menschlicher Kreativitt
gehalten haben: Wenn ich jemand auffordere zu sagen, was ihm
zu einem bestimmten Element des Traumes einfllt, so verlange
ich von ihm, dass er sich der freien Assoziation unter
Festhaltung einer Ausgangsvorstellung berlasse.
Das freie Assoziieren nutzte Freud als Mglichkeit,
die Klienten nicht bewusst abrufbare Informationen aussprechen
zu lassen. Zuvor Unbewusstes, im Rahmen der Analyse also: Verdrngtes,
konnte bewusst werden. Fr Freud lag hier die Mglichkeit,
sich an Bereiche der Erinnerung heranzutasten, die durch Nachdenken nicht
erreichbar gewesen wren. Die Ergebnisse des Assoziierens sind
oftmals schillernd, bilderreich, widersprchlich, unverstndlich
oder in ihrer Symbolik dramatisch. Im Prozess der Analyse Freuds
werden sie allerdings weniger als bewunderungswrdige Ergebnisse
der menschlichen Einbildungskraft gesehen, sondern vielmehr
als interpretationsbedrftige Formen, die eine Funktion im
Fortgang der Analyse erhalten sollen.
Der knstlerischen Auseinandersetzung mit Freuds Anstzen
liegt vielmehr die Faszination von Anschaulichkeit, Direktheit
und Klarheit der Sprache des freien Assoziierens,
des Prinzip[s] der Ideenassoziation zugrunde. Es erschien den Surrealisten
gleichzeitig geheimnisvoller, widersprchlicher und auf diese
Weise spannungsgeladener als die bewusst komponierten Produkte
knstlerischer Inspiration.[14] Weshalb
also sollte diese Technik nicht fr knstlerische Produktionsformen
ntzlich sein? Wichtig war Breton beispielsweise die Freistellung
des Subjekts von Gelerntem und Gewusstem, sein Ideal war die
Vorstellung von einem Kind, das sich verirrt hat und nun
angstlos und voller Neugier die Welt betrachtet, als sei es
das erste Mal. Bei
einem erwachsenen Knstler diese Freistellung zu erreichen,
kann nicht vollstndig gelingen doch es gibt Methoden, die
es erlauben, sich ihr anzunhern.
Techniken zur Lsung von Stereotypen sind fr Knstler und
Architekten bis heute Bestandteil tradierter Strategien zur
Lockerung festgefahrener Vorstellungen, um die Entdeckung des
Neuen und den Zugang zum Unbewussten als Quelle der Inspiration
zu erleichtern. Die Tcken des stereotypisierten Denkens sollen berlistet
werden, um die eigenen Reflexe zu umgehen, wie es Gerrit
Confurius ausdrckt.[16] Unsere Beobachtungsgabe
ist wesentlich geschrfter, wenn wir mit neuen Erfahrungen
konfrontiert werden, die nicht unmittelbar in vorgefertigte
Bilder oder Urteile eingestuft, in unser Symbolsystem bersetzt
werden knnen, sondern ob ihrer Neuheit intensiv wahrgenommen
und untersucht werden mssen, um erkannt zu werden. In der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts
entwickeln z.B. Hans Arp, Max Ernst, Le Corbusier und Alvar
Aalto individuelle Methoden zur berraschung und Lockerung
des kreativen Flusses. Hans Arp zerreit von ihm ausgearbeitete
Papierarbeiten, die Papiers dchires, um sie durch
die Luft auf den Boden rieseln zu lassen. Die neue, dem Zufall berlassene
Konstellation der Papierschnipsel, wie er sie dann von ihm unbeeinflusst neu
komponiert vorfindet, kann er anschlieend entdecken und knstlerisch
in Metamorphosen weiter treiben. Max Ernst entwickelt
zahllose halbautomatische Methoden wie z.B. das spter durch
das Action Painting bekannte dripping, eine mit Farbe gefllte
Dose, die an einer Schnur hngend, eigenstndig Linien auf
einer Leinwand zieht; der zufllig entstandene Bildinhalt
wird dann weiterinterpretiert; oder die kontextuelle Technik der
Frottage, die unvorhersehbare Abdrcke einer wirklichen Oberflchenstruktur
wie bei einem magisch beschleunigten Wachstumsprozess langsam
aufscheinen lsst. Den Vorgang der Entdeckung berfhrt Max
Ernst durch vielschichtige berformungshandlungen in vorher
nicht absehbare Bildzusammenhnge. Le
Corbusier nutzt die tgliche bung mit der Zeichnung und der
Malerei wie der Akrobat, um die komplexen Architekturprobleme
danach mit dem gelockerten Erfindungsgeist besser
lsen zu knnen. Alvar Aalto verrt, dass er direkt
kindische Kompositionen zeichnet, um zuvor angeeignete, unlsbar
scheinende komplexe Bedingungen berraschend zusammen fhren
zu knnen.
Spielerische, kreative Strategien nach selbst auferlegten
Regeln werden in der zweiten Hlfte des 20. Jahrhunderts durch
die OuLiPisten-Bewegung[23] aufgenommen:
George Perec und andere Gruppenmitglieder schreiben unter strengen,
mathematischen Regelbegrenzungen (= vorab entworfene Programme,
ein prozesshafter Entwurf vor dem Entwurf, nach dem
Regelentwurf kann jeder mitspielen) ganze Romane, um assoziative
Krfte zu mobilisieren und intensivieren. Sabine Mainberger
verdeutlicht den komplexen und erfinderischen Umgang Georges
Perecs mit dem nur rigide scheinenden, mathematischen
Regelwerk, das seiner Schreibarbeit La Vie mode demploie (Das
Leben Gebrauchsanweisung) von 1978 zugrunde liegt. Bei nherer
Beleuchtung werden die Regeln im Prozess der Spielaneignung
bestndig weiter getrieben, abgendert oder ausgetrickst, um
Regeln auszuloten, Tiefen zu erzeugen und zugleich dem Leser
die kreative Energie zur Fortschreibung des Romans abzuverlangen. Im ausgehenden 20. Jahrhundert wird
durch die DOGMA Bewegung und die Dekonstruktivisten, allen
voran Coop Himmelblau, das surrealistische Repertoire der Regelerfindung
in den kreativen Prozess zur Entwicklung knstlerischer Produktion
wieder aufgenommen. Die DOGMA Bewegung, auch durch ein programmatisches
Manifest in der Tradition der Surrealisten und DaDaisten,
entwickelt ein Regelwerk zur engen Begrenzung technischer Mglichkeiten
und inhaltlicher Disziplinierung, um aufwendige Gewohnheiten
der Filmdarstellung aufzugeben, damit die Schauspieler, an
der Spielentwicklung intensiv beteiligt, tiefe Seelenzustnde
durch Konzentration auf die Geschichte Improvisation ohne
Vorlage ist wie Tennisspielen ohne Ball entwickeln knnen.[25] Und Coop Himmelblau entwirft methodisch mit automatischen
Verrumlichungsprozessen bei geschlossenen Augen im
Entstehungsprozess des open house 1983: Unabgelenkte Konzentration
auf das Gefhl, das der gebaute Raum haben wird um
den Gefhlen ber die analoge Handzeichnung in eine rumliche
Form zu verhelfen, so dass mit Hilfe blinder Gesten, die in
Linien und in dreidimensionale Formen bersetzt werden, die
Krpersprache des Entwerfers buchstblich in den Plan [...]
[eingeschrieben wird].
Die Zeit- und Spielbegrenzung und Fokussierung des Transformationsmaterials
ist im Stille Post Spiel
die Ausgangssituation fr die Entstehung eines an elf Personen
gebundenen Ideenflusses im Dialog. Die Spielbedingungen sind
fr die Einzelne der Handlungsraum: innerhalb von gegebenen
Grenzen wird eine Beziehung zur Spielvorgngerin im Geheimen
aufgebaut, um den Dialog ber eine sthetische Hervorbringung
weiter zu treiben.
2. Der dialogische Entwurf als Beziehungs- und Erkenntnisvorgang
Ein
Spielergebnis wird im Hinblick auf einen Produktionsprozess
spielerisch und im Dialog und Austausch mit der sthetischen
Erfahrung des Spielmitglieds im Spiel nach Regeln transformiert. Vorweg
ist einzurumen, dass wenn irgendwo, in der sthetik Erkenntnis
schichtenweise sich vollzieht. Der Dialog ist ein Entfaltungsprozess
auf dem Weg zur Erkenntnis.
Ergebnis eines sthetischen, nach Bedeutung suchenden und
funktionalen Dialogs im architektonischen Entwurfsprozess ist
das Gebude als rumlicher, in Materie verwandelter Dialog
mit der Umgebung. Dieses Ergebnis bildet den Dialog zwischen
den am Bauprozess beteiligten Personen ab und drckt den Dialog
der am Prozess Involvierten mit vergangener und gegenwrtiger
Baukultur aus. In der knstlerischen Disziplin ist der Entwurfsvorgang zwischen
Inkubation und Verifikation als
durchgngiger Schaffens- und Suchprozess erst mit dem Werk
abgeschlossen. In der Architekturdisziplin liegt dem Entwurfshandwerk
traditionell dieses Selbstverstndnis zugrunde: Selbst der
erfahrendste Architekt wird immer wieder erleben, dass er erst
im Mastab der natrlichen Gren seine formalen Absichten
voll zu berschauen und ihnen den charakteristischen Ausdruck
zu geben vermag. Nur selten bleibt die Zeichnung 1 : 20 unverndert,
wenn man in natrlicher Gre detailliert. Der
Prozess der Verwandlung, ein Entwurfsvorgang, ist ein subjektiver
Vorgang, der im entwerfenden Gestalten die Relation zwischen
den Dingen und den Menschen im Hinblick auf Bedeutungsorientierung
hinsichtlich der Dinge, der Handlungen und der Ereignisse definiert
und beschreibt.
Das Entwerfen ist die Kunst der Erneuerung, der Vorstellungskraft
und der Erfindung, in der Architekturdisziplin Werkzeug und
Prozess zugleich. Hochkomplex in der emotionalen und intellektuellen
Beanspruchung des Entwerfenden, verknpft diese Ttigkeit eine
Vielzahl an Notwendigkeiten, Informationen und an die Person
gebundenen Erfahrungen durch eine Flle an Entscheidungen im
Suchprozess. Entwerfen ist grundstzlich eine empirische, eine
praktizierende und dadurch zu berprfende Disziplin. Die mgliche
Selbstreflexivitt des Entwerfers integriert die neu gewonnene
Erfahrung aus vorangehenden Entwurfshandlungen und findet im
rckkoppelnden Auswerten der Mglichkeitsfelder statt; dies
zeichnet eine heuristisch orientierte Entwurfsstrategie aus.
Eine reflexive Entwurfspraxis nutzt die Option zur bewussten
Prozesssteuerung, um im Vorgang des Entwerfens die Dialogebenen,
die den Entwurf als Form- und Raumfindungsprozess charakterisieren,
gezielt und kreativittsfrdernd zu platzieren. Die Prozesssteuerung
findet im Stille Post Spiel
nach vorab definierten Regeln seinen Niederschlag. Reflexiv
wird die Reaktionskette der Spielerin durch ihren dreifachen
Spieleinsatz. Drei Spielrunden bringen eine Reihe von Ergebnissen
hervor, die innerhalb der 22 Spielwochen Bestandteil eines
fortlaufenden Dialoges werden, in dem jede Spielerin verschiedene
Dialogsituationen experimentiert.
Verursacht wird ein Dialog durch Fragestellungen, die dem
Erkenntnisdrang entspringen. Welchen Inhalts die Fragen sind,
die im Entwerfen gestellt werden, entscheidet ber die Ausgestaltung
der Dialogebenen, die erffnet werden. Im Protokoll zwischen
zwei Akteurinnen werden maximal drei Fragen gestellt, 10 Stze
mssen der Beantwortung reichen. Wie die Fragen beantwortet
werden, oder welche Intention die Fragende/Antwortende verfolgt,
ist offen. So ist die Priorittensetzung der mglichen Themen
im Dialog, der Kontextebenen im Entwurf, abhngig
von den Interessen der Personen, die den Entwurfsprozess prgen.
Die Auswahl dieser Kontextebenen nimmt folglich Einfluss auf
den Inhalt und die Antworten des Dialogs, den Form- und Klangfindungsprozess.
Die rhetorische Kunstfertigkeit des Gesprchs entscheidet,
wie und wann die Kontextebenen in diesen Vorgang integriert
werden. Nicht nur gelegentlich, sondern immer bertrifft der
Sinn eines Textes seinen Autor. Daher ist Verstehen kein nur
reproduktives, sondern stets auch ein produktives Verhalten.
Das Stille
Post Spiel ist eine Dialogreihe zwischen elf Personen.
Der Kontext des Dialoges entwickelt sich aus dem Ausdruck
der jeweils vorangegangenen Arbeit. Wie diese Mitteilung,
der Ausdruck, verstanden wird, gibt Auskunft ber die Qualitt
des Dialogs. Jede Akteurin setzt die Prioritten ihrer
Reaktion, indem sie aus dem Kontext der zu beantwortenden
Arbeit - dem Fundus des Gesprchsstoffes auswhlt, um
zu antworten. Dies bildet den Vorgang des Verstehens oder
Missverstehens ab, den Interpretationsspielraum der Regeln
und das Werkzeug, mit dem sie auf die Vorgngerin reagiert.
Durch knstlerische Produktion unterliegt Erkenntnis einem
fortwhrenden Wandel, ist also wirklich, gegenwrtig,
bewusst oder unbewusst und verweist im Prozess der Verwandlung bereits
auf neue Perspektiven. Sinnhaltige Form lsst sich nicht
ex nihilo konzipieren; wir knnen sie nur finden und nach
ihrem Bilde etwas schaffen.
Der Begriff der Transformation beschreibt einen Vorgang, einen Prozess des Umwandelns und Umformens.
Aus lateinisch transformare, trans fr durch,
hindurch, ber hinaus, lateinisch forma fr Gestalt, Figur umschreibt
dieser zusammengesetzte Begriff die Bedeutung, die von sichtbaren, sthetischen
Eigenschaften der Dinge handelt, die in der Gestalt (Erscheinung)
oder in der Figur (Umriss) durch ein Subjekt hindurch gegangen zur
Anschauung kommen. In Wahrheit ist in der Darstellung der
Kunst Wiedererkenntnis am Werk, die den Charakter echter
Wesenserkenntnis hat. Im knstlerischen Entwurfsprozess
der dialogischen Weitergabe sthetischer Informationen findet
das Transformieren ausschlielich mit sicht- oder hrbarem
Material statt - Fotografien, Zeichnungen, Skizzen,
Musikstcke, Objekte, Filme, Texte. Der Gestaltungsprozess,
den das Ausgangsmaterial nimmt, geht im Entwurfsprozess durch
das Bewusstsein des Entwerfenden hindurch ber sich selbst hinaus und
resultiert in einem neuen, transformierten Objekt und einer
neuen Sichtweise auf den Ausgangsstoff der Transformation.
Mimetische Transformation mag ein Paradoxon sein,
verbinden sich doch in diesem Begriff die Vorgnge der Nachahmung und der Umgestaltung. Adorno kritisiert das technische
Verfahren und die Beredtheit der mimetischen sthetik, spricht
ihr aber eine suggestive Kraft nicht ab, da Blindes,
zuvor nicht Erkanntes, durch Mimesis Ausdruck finden kann: Das
fhrt auf eine subjektive Paradoxie [...]: Blindes den Ausdruck aus
Reflexion durch Form zu produzieren; das Blinde nicht zu
rationalisieren sondern sthetisch berhaupt erst herzustellen. Bereits in diesem nachahmenden
Vorgang liegt die interpretierende Handlung: Eine Tatsache
[...] ist das, was in gegenwrtigen Ereignissen Gegenstand
der Aufmerksamkeit, des unterscheidenden Gewahrseins, ist. Nun
steht das Gewahrsein in direkter Abhngigkeit zu der Tatsache,
die eine Person auf dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen
im Dialog subjektiv erfhrt. Die getroffene Auswahl einer als
wichtig erachteten Bedeutung - der im Reaktionsprozess aufgegriffenen
Botschaft - ist bereits der erste Umgestaltungs- als
Interpretationsvorgang. Dies wiederholt sich in den darauf
folgenden mimetischen Gestaltungsprozessen innerhalb einer
Spielrunde potenziert das Isolieren oder Herausstellen von
Teileigenschaften wird mehrfach wiederholt, und der Ausdruck
[wird zum] Interferenzphnomen, da
auf ein Gewahrsein der nchste Interessensfokus erfolgt,
und die daraus gewonnenen Erkenntnisse jeweils in einer Beziehungskette
mit dem vorab Erkannten stehen und im Transformierten immer
dichter ein- und ineinander geschrieben werden knnen. Dies
Interferenzphnomen ist beispielsweise in der Folge 2.1.-2.5
zu beobachten: die mediale Auseinandersetzung mit dem Postindustrialismus
von Sandra Becker 01 man schaut im bewegten Bildausschnitt
auf die Fe, die im Takt des Laufbandes eines Fitnessstudios
maschinenmig gehen mssen - wird mit einer Videoantwort der
bildenden Knstlerin Elvira Hufschmids ein ebenso bewegter
Oberkrper ergnzt; neue Taktsequenzen - eine Interpretation
der Pianistin Jasmina Samssulis zur Etude Nr.3 von G. Ligeti
- werden auf die Filmarbeit aufgelegt, eine Titelabnderung
der Philosophin Kathrin Busch fokussiert den Stoff neu und
im anschlieenden Text der Landschaftsarchitektin Margit Schild
wird ber die Auslassungen zur Qualitt des freien Gehens als
Entdeckung von Orten die Interferenzverdichtung letzlich aufgelst.
Im Unterschied zur [rein] analytischen Lektre[37] widersetzt sich die der Lust folgende
dem fortlaufenden Wechsel zwischen Rezeption und Produktion
und definiert vielmehr einen Rhythmus von Intensittsmomenten. Der Umgang
mit der Lcke zwischen den einzelnen kreativen Handlungen
und Gesprchsbezgen im kommunikativen Spiel wird von einer
Ebene zur nchsten, von einer Transformationshandlung zur
darauf folgenden neu definiert und dient der berbrckung
des vorangegangenen Gesprchsfokus. Dieser Verknpfungsvorgang
birgt eine Vielzahl an sthetischen Entscheidungen.
In den darstellenden Knsten sind Nachahmung und Darstellung
[...] nicht abbildende Wiederholung allein, sondern Erkenntnis
des Wesens. Weil sie nicht blo Wiederholung, sondern Hervorholung sind,
ist in ihnen zugleich der Zuschauer mitgemeint. Wenn
etwas sthetisch hervorgeholt ist, zeigt es sich auch zugleich.
Die Hervorholung meint das interpretierte Wesenhafte in der Darstellung,
denn Kunst ist ein nachahmendes Wieder erkennen. Der Fokus auf den knstlerischen Darstellungs-
als Erkenntnisprozess, als bedeutungshaftes Ganzes, impliziert
eine notwendige Rezeptionserfahrung durch einen Beobachter
und vermittelt zwischen der Perspektive von Selbstausdruck
und semantischer Botschaft einer Symbolisierung durch erkennende
Darstellung. Die Verwandlung ins Gebilde meint darber hinaus
die Weiterentwicklung einer Persnlichkeit durch das, was sie
in der Kunst darstellt als Folge der Auseinandersetzung mit
dem zunchst Unbekannten. Dies ist kein Prozess bloer Vernderung,
sondern der Erneuerung. Die knstlerische Vereinnahmung ber
darstellende Wahrnehmung grenzt die Wirklichkeit als das Unverwandelte
und die Kunst als die Aufhebung dieser Wirklichkeit in die
Wahrheit voneinander
ab.
Das Kunstwerk verhlt sich zur Wirklichkeit nachahmend, damit
sich jeder einzelne selbst darin erkennt und wieder erkennt. Das transformierte Objekt spiegelt
von einer Arbeit zur nchsten die verwandelten Kontexte wider.
Die mimetische Transformation im bersetzungsvorgang bringt
Gestalt hervor, die einer Beziehung entspringt, Ursache fr
die entstandenen Relationen ist das Erkennen im Bekannten: der
Erkenntnissinn von Mimesis ist Wiedererkennung. Vorhandenes
wird mit dem individuellen Auge wieder erkannt, da es schon
vorher existiert hat, ohne erkannt zu sein. Das verwandelte
Gebilde ist dem Ausgangsstoff hnlich, in der Konsequenz ist
das Ergebnis als Konstellation vllig neuer Rahmenbedingungen
durch neue Bezugspunkte der eingefgten Kontextebenen im transformierenden
Spielfortschritt jedoch eindeutig etwas Anderes, etwas Neues. Es
kann hier keinen bergang allmhlicher Vernderung geben, der
vom einen zum anderen fhrte, da das eine die Verneinung des
anderen ist. So meint Verwandlung ins Gebilde, da das, was
vorher ist, nicht mehr ist. Aber auch da das, was nun ist,
was sich im Spiel der Kunst darstellt, das bleibende Wahre
ist. Das
mimetische und das innovative Moment setzt Gadamer in den Kontext
der Wahrheitssuche durch Handlung. Der Nachahmung wie auch
der Verwandlung liegt der Wunsch nach Erkenntnis zugrunde,
die menschliche Antriebsfeder, der Erkenntnissinn. Nachahmung
hat also als Darstellung eine ausgezeichnete Erkenntnisfunktion. Dies
Transformatorische in der Kunst ist, [...] nur mglich als
durchs Subjekt hindurch gegangene.
Aus der neu gewonnenen Erfahrung tritt eine Persnlichkeit verwandelt hervor. Dabei
ist die Verwandlung ein Prozess, den der kreative Mensch in
dem Moment erlebt, in dem er knstlerisch transformierend darstellt.
Er lsst etwas durch sich selbst hindurch passieren, wodurch
eine irreversible Vernderung des Bewusstseins durch Erkenntnis
eintritt. Das Nicht-wieder-Zurcknehmbare an Erlebtem und
damit Erkanntem, die Verwandlung, bedeutet, dass die Erkenntnis,
die vorher Erkenntnis war, nicht mehr ist. Was damit fr die
Bestimmung des Seins der Kunst gesagt sein soll, tritt heraus,
wenn man den Sinn von Verwandlung ernst nimmt. Verwandlung
ist nicht Vernderung [...]. Verwandlung dagegen meint, da etwas
auf einmal und als Ganzes ein anderes ist, so da dies andere,
das es als Verwandeltes ist, sein wahres Sein ist, dem gegenber
sein frheres Sein nichtig ist.
Dem Prozess des knstlerischen Darstellens wird hier die eigentliche
Erkenntniskraft des in der Welt-Seins zugeschrieben. Das
Kunstwerk ist nicht von der Kontingenz der Zugangsbedingungen,
unter denen es sich zeigt, schlechthin isolierbar, und wo solche
Isolation doch geschieht, ist das Ergebnis eine Abstraktion,
die das eigentliche Sein des Werkes reduziert. Die Zugangsbedingungen bezeichnen
das Erleben der Darstellung im darstellenden Rezipieren, im
Sein whrend und durch die knstlerische Hervorbringung. Dieses
kann nicht abgetrennt passieren von der Rezeption und im Umkehrschluss
bleibt die Rezeption ohne die Darstellung abstrakt und nicht
erfahrbar. Der dialogische Prozess im Stille Post Projekt
bietet diese gleichzeitige Darstellungs-; Hervorbringungs-
und Erkenntnis- als Seinsqualitt, als Teil des Seinsvorganges
der Darstellung.
Das Moment der Mitteilung von uerungen zur Erinnerung oder
zum Gewinn einer Vorstellung von Erfahrungen ist Teil des schpferische[n]
Prozess[es] der Ideenbildung, [...] der Abstraktion, der das
Menschenleben zu einem Abenteuer des Verstehens macht. Menschliches
Dasein differenziert sich durch den Drang zur scheinbar sinnlosen,
da nicht berlebensnotwendigen Symbolisierung in Form von uerungen,
die ber das Hervorbringen von Anzeichen zur zweckgebundenen,
reinen Bedrfnisbefriedung weit hinausgehen. Der Symbolisierungsvorgang
reprsentiert einen notwendigen Teil menschlicher Existenz
und ist so Verstehen und Verstndigung, Mittel und Zweck in
eins. Wie wir die Welt verstehen
und interpretieren, prgt auch den dialogischen Erkenntnisvorgang
im knstlerischen Transformieren. Kreative uerungen sind
Teil unseres Verstndigungs- und Mitteilungsvorganges. Die
Ergebnisse, die knstlerischen Hervorbringungen als Transformation
der kristallisierten Bedeutungszuschreibung durch die Spielerinnen
bergen eine semantische Aussagekraft. Die Veranschaulichung
des Verstehensprozesses ist in dem menschlichen Bedrfnis begrndet, in
konkretem Handeln den symbolischen Prozess des Gehirns zu vollenden. Das Transformierte
ist wie das gesprochene Wort Selbstausdruck und semantische
Botschaft zugleich.
Durch knstlerische bersetzung besteht Tradition fort, allerdings verwandelt durch
die Sinnperspektive des Betrachters. Tradition [ist] der Erkenntnis
selbst immanent [...] als das vermittelnde Moment ihrer Gegenstnde und
Erkenntnis hat an sich [...] teil an Tradition als unbewusste
Erinnerung; so entsteht eine verwandelte
Kontinuitt des bereits Gedachten und des Wirklichkeitsbegriffs:
der vergangene und gegenwrtige dialogische Kontext ist Gegenstand
der Bezugnahme des nach Antwort Suchenden, um [...] Tradition
[...] nicht abstrakt zu negieren, sondern unnaiv nach dem gegenwrtigen
Stand zu kritisieren: so konstituiert das Gegenwrtige das
Vergangene. Die Wahl der Gesprchskontexte,
die verwandelt aufbewahrt werden, konfrontiert Gegenwart
und Geschichte interdisziplinr. Vergangenes kann einen subtilen
oder direkt sichtbaren Gegenwartsbezug enthalten, der, aufgegriffen,
pltzlich zum Hauptthema des knstlerischen Gesprchs wird.
Die fotographische Sequenz einer mrchenhaft anmutenden Familiengeschichte
in der Arbeit 3.3 von Katrin Tomas wird ber abstrahierende
Personen- und Objektskizzen (Sandra Becker) in das (vielleicht
durch den Titel der Gesprchspartnerin inspirierte) Psychogramm Sachses
Antwort auf Haecksenspiele von Julia von Hasselbach berfhrt.
Die Ernsthaftigkeit dieser Arbeit wird zu den Collagen Knnen
Hexen fliegen? von Kathrin Busch, ein assoziatives
Spiel mit weiblichen Persnlichkeitstypen, verfremdet,
die in der Arbeit Vera Frankes - als roter Gesprchsfaden erkennbar
- verwandelt im ironisierenden Mrchenkontext wieder aufgenommen
wird. Wie im Experiment des Cadavre Exquis der surrealistischen Praxis taucht am Ende berraschend
noch das Elfentagebuch von Dagmar Jger in neun Teilen auf ein
geheimes Echtzeitdokument der psychologisch dicht gewussten
Affren im Prozess.
Mimetische Transformation, nachahmende Aneignung durch (Um)Gestaltung,
kann keine blinde Nachahmung sein.
Ohne wertende Bedeutungszuschreibung ist kein Erkennen und
knstlerisches Hervorholen mglich. Wertungen unterliegen
Erfahrungen und Traditionen und damit gltigen Verallgemeinerungen.
Gltige Vereinbarungen werden zum Konsens, als Stereotypen
im Geschichtsprozess tradiert, als solche allgemeingltig,
unverrckbar und der Kritik schwer zugnglich. Durch ein aufgeweitetes Verstndnis
kulturell und zeitlich heterogener, disziplinfremder Kontextbezge
im Spielprozess zwischen 11 Akteurinnen werden gewohnte Sehweisen
in Bewegung versetzt. Die Wahl der Bezge aus Gegenwart und
Vergangenheit schaffen den kritischen Rahmen, das jeweilig Hervorgeholte unter
intendierten Gewichtungen zu entdecken, zu bewerten, und schlielich
deutend in Gestaltkompositionen mehrfach ineinander verwoben
abzulegen. Als ob nicht jede Erkenntnis [...] die erstarrten
Dinge in Flu brchte, eben dadurch in ihnen der Geschichte
gewahr wrde.
Epilog
Wie kann also, so fragt er sich, ein Ding uns wirklich erscheinen, wenn die Synthese niemals abgeschlossen ist [...].
Wie kann ich die Welt als ein tatschlich existierendes Individuum
erfahren, wenn keine der Perspektiven, unter denen ich sie
betrachte, sie zu erschpfen vermag und die Horizonte immer offen sind?
[...] Der Glaube an das Ding und an die Welt mu die Annahme
einer abgeschlossenen Synthese mit einschlieen und doch
wird dieser Abschlu unmglich gemacht durch die Natur der
zu korrelierenden Perspektiven selbst, weil jede von ihnen
durch ihre Horizonte stndig auf andere Perspektiven verweist
[...] Der Widerspruch, den wir zwischen der Realitt der
Welt und ihrer Unabgeschlossenheit finden, ist derselbe wie
der zwischen der Allgegenwrtigkeit des Bewusstseins und
seinem sich Engagieren in einem Gegenwartsfeld [...]. Diese
Ambiguitt ist nicht eine Unvollkommenheit des Bewusstseins
oder der Existenz, sondern die Definition davon.
Die Autorin arbeitet an einer Dissertation mit dem Titel Die
Schnittmuster-Strategie, eine dialogische Entwurfslehre als
Bestandteil der Architekturausbildung, die sich mit dem komplexen
Phnomen der Entwurfsprozesse auseinandersetzt.
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